DER STAUDAMM UND DER SEE VON VALVESTINO

DER STAUDAMM UND DER SEE VON VALVESTINO

Das Valvestino-Tal. Kennt ihr das Gefühl, wenn ihr an einem bestimmten Punkt eures Lebens erwachsen seid und euch verändert habt und beschließt, an einen Ort zurückzukehren, den Ihr vor langer, langer Zeit, also zur Milchzahnzeit, oft besucht habt und diesen dann so verändert vorfindet, dass euch ernsthafte Zweifel kommen, vielleicht doch senil zu sein und diesen Ort nur in euern Träumen gesehen zu haben? Nun, dieses Gefühl des Raum-Zeit-Unbehagens überfällt mich jedes Mal, wenn ich mich darauf einrichte, an einen dieser Orte zurückzukehren: auf der einen Seite das brennende Verlangen, als ob der Ort ein Omelett-Sandwich wäre (und wenn es um Omelett-Sandwiches geht, verspüre ich ein wirklich ein brennendes Verlangen), andererseits die Angst, diesen nicht wieder zu erkennen, ein bisschen wie das Gefühl, das Männer haben, wenn ihnen ihre Freundinnen endlich zum ersten Mal ungeschminkt gegenüberstehen.

Das waren also meine Gedanken, als ich mein Hinterteil ins Auto setzte und in Richtung Valvestino fuhr: "Oh Gott, was, wenn es nicht so toll ist, wie ich es in Erinnerung habe? Was, wenn es so ganz anders ist, als ich es in Erinnerung habe? Was, wenn ich es nicht erkenne?", unterbrochen nur von der allgegenwärtigen Frage: "Sind wir da? Was nun?" Also, nur um mit Beständigkeit und Pünktlichkeit meine Geduld zu unterstreichen, die mich ein Leben lang ausgezeichnet hat.

Offensichtlich hat sich keiner meiner drängenden Gedanken durchgesetzt und die Realität übertraf die besten Erwartungen.

Jetzt wo ich darüber nachdenke, glaube ich, dass die Straße vielleicht nicht ein SO tolles Panorama hatte, als ich auf ihr das letzte Mal vor dreißig Jahren auf dem Rücksitz des weißen Opel Corsa von Onkel Umberto mitgefahren bin.

Wenn deine Augen mit dem Panorama des Gardasees gefüllt sind, passiert es leicht, sich in seinen Gewässern zu verlieren und von seiner Schönheit eingefangen zu werden. Aber wenn du den Mut aufbringst, ihn für ein paar Stunden zu verlassen, um das ihn umgebende Hinterland zu erkunden und von den Rändern der von den schönsten Postkarten gezogenen Grenzen abzuweichen, besteht das einzige Risiko, das du eingehst, darin, Orte zu finden, die genauso bezaubernd sind. Kehren wir also dem Monte Baldo den Rücken, der dies auf keinen Fall übelnimmt und fahren die Straße von Gargnano hinauf nach Navazzo und noch höher, auf halber Strecke zwischen dem Gardasee und dem Idrosee, in Richtung Valvestino-Tal. Das Valvestino-Tal hat wirklich, seien wir ehrlich, eine Ahnung von Landschaftskulissen: Mit seinen steilen Flussufern tut es so, als ob es ein norwegischer Fjord wäre. Ich nehme an, der Grund dafür ist, sich vom Gardasee abzugrenzen, denn es hätte keinen Sinn gemacht, diesen herauszufordern. Als ob die Tatsache, dass es einen künstlichen See enthält, der in den 1960er Jahren dank eines riesigen Staudamms ex novo geschaffen wurde, nicht schon genug gewesen wäre, ebenso wenig wie die Tatsache, dass es zum österreichisch-ungarischen Reich gehörte (es wurde 1916 von Italien annektiert und erst 1934 wurde das Valvestino-Tal dann als Brescia-Gebiet betrachtet).

Gerade aus den Tiefen des Sees tauchen die historischen Spuren des Valvestino-Tals auf: Jetzt, wo der Wasserspiegel des künstlichen Beckens zwangsweise abgesenkt wurde, um an der Staumauer zu arbeiten, sowie jedes Mal, wenn der See ausgetrocknet ist, kann man sehen, was vom alten Zollgelände von Lignago übriggeblieben ist. Eine Ortschaft, die so mikroskopisch klein ist, dass sie auf den Landkarten nicht wirklich existiert (und schon dieser Umstand macht die Sache so recht interessant). Dies war nämlich der obligatorische Durchgang für den Transport von Waren und Holzkohle zum und vom See. Kannst du auch schon das Geflüster der Schmuggler hören, die versuchten, nachts den Zoll zu umgehen, die Wälder heimlich durchquerten und versuchten, die Spalten und Klippen zu vermeiden?

Zweifellos weniger besucht als seine Nachbartäler, bietet das Valvestino-Tal einen wilderen und unverfälschteren Blick auf die Berge des Naturschutzgebietes Alto Garda Bresciano. Hier vermischt sich die Natur mit menschlichen Eingriffen: Die Brücken scheinen eher dafür geschaffen worden zu sein, um das Tal aus verschiedenen Blickwinkeln zu bewundern, als um eine Passage durch das Tal zu öffnen. Und was wäre, wenn der menschliche Eingriff in die Landschaft einen Mehrwert geschaffen hätte, mit smaragdgrünen Gewässern, dichten Wäldern, Canyons, die an exotischere Orte erinnern, anstatt das Tal zu verunstalten? Letztendlich haben auch ein zyklopisches Bauwerk wie ein Staudamm und sein Reservoir von über fünfzig Millionen Kubikmetern Wasser, die Druckrohrleitungen, die bis zum Kraftwerk San Giacomo in Gargnano führen und die Brücken über den See ihren Reiz und ein Fernwehgeplagter sollte sich einen Besuch nicht entgehen lassen, zumal es so einfach ist, dorthin zu gelangen.

 

Aus dem blog "Through Elena's Eyes"